Von Dunkelklaus
Berlin. Noch einmal blinzeln, dann ist Weihnachten. Noch zweimal, dann ist wieder Zeit für das großartige Dark Spring Festival in Berlin. Für die zwölfte Ausgabe am 20. April 2024 laden die Gastgeber Golden Apes wieder zu einem mit feiner Hand ausgewähltem Festival internationaler Acts ins Lido. Dark Spring-Liebhaber können sich schon mal freuen auf The City Gates aus Montreal, Kanada, und auf Ductape aus Istanbul, Türkei. Und natürlich auf die Golden Apes selbst, die bei ihrem eigenen Festival selbstverständlich auch wieder aufspielen werden. Doch bevor es soweit ist, blicken wir erstmal in voller Pracht zurück auf die diesjährige elfte Auflage des herrlich düsteren Frühlingsfestes. Wer noch Zweifel hat, ob sich das Hingehen lohnt, wird sie hier los (und sollte sich schnellstens sein Ticket für 2024 sichern).
Viel Spaß beim Lesen.
Nach drei Jahren coronabedingter Zwangspause konnten die Golden Apes am 29. April 2023 wieder befreundete Bands zum Heimspiel nach Berlin laden: Die mittlerweile elfte Auflage
des eigentlich jährlichen „Dark Spring Festival“ fiel verspätungsbedingt anders aus als für den 21. März 2020 ursprünglich geplant: Nicht das derzeit
geschlossene Bi Nuu unterm U-Bahnhof Schlesisches Tor war Spielstätte für die sechs Bands des Abends, sondern das Lido fünf Gehminuten weiter im quirligen Kreuzberger Wrangelkiez. Und
wegen ihrer Auflösung im Februar fehlten auch Hapax aus dem originalen Line-Up. Doch das alles tut dem Abend keinen Abbruch: Das Lido stellt sich als nicht
minder schnuckelig als das Bi Nuu heraus – und der gebuchte Band-Sechser entpuppt sich als schwarz-bunte Wundertüte musikalischer Pretiosen mit hohem Frauenanteil am
Mikrophon.
Das geht schon los mit The Spearmint Sea aus Boston, die ab 18.50 Uhr die undankbare Aufgabe haben, mit ihrem halbstündigen Programm das eintröpfelnde Publikum in Empfang zu nehmen. Die US-Formation um Sängerin Nichole Ferree (mit üppiger Kette aus zahlreichen Sicherheitsnadeln) präsentiert auf ihrem ersten Konzert auf europäischem Boden überhaupt eingängigen Dreampop garniert mit krachigen Gitarrensoli. Dank ihrer Mitstreiter an Bass und Gitarre schwellen die Lieder auf zwei- und dreistimmigen Gesang an, was das folk-rockig angehauchte Set-Up an melodische Indie-Bands wie die Magic Numbers oder die späteren Shout Out Louds erinnern lässt. The Spearmint Sea ist übrigens für das Dark Spring in Boston verantwortlich – welches sich am Berliner Original orientiert und deshalb im vergangenen Jahr auch mit den Golden Apes aufwarten konnte.
Auch Deer Dear kommt mit einer Sängerin auf die Bühne. Aber das ist dann neben der Bühne auch fast das Einzige, was die zwei Franzosen aus Lille mit den Vorgängern aus Massachusetts teilen. Wo die Opener harmonische Klangteppiche verweben, setzt Dear Deer auf treibende Synths. Das Duo versprüht eine enorme Präsenz. Schon der Aufbau mit seinen treibenden Elektrobeats ist ein Fest. In einer anderen Band würde allein Co-Sänger, Gitarrist und Keyboarder Frederico Iovino die Bühne dominieren. Mit seinem silbern glitzernden Glatzkopf sieht er ein wenig aus, als hätte sich Fantomas von Damien Hirsts Glitterschädel updaten lassen. Doch die Bühne gehört klar Sängerin Claudine Sabatel. Eine energiegeladene Femme Fatale auf enorm hochhackigen Stiefeln, die mit dem Publikum flirtet und dabei ihren Bass so lasziv aus der Hüfte spielt, dass sich die Tanzfläche füllt und Männlein wie Weiblein vor der Bühne gleichermaßen hingerissen werden. Die exzentrische Mischung aus Post-Punk, Elektro-Punk und Noise ist einzigartig – und live eine Wucht. Wenn sie „Backwards“ aus ihrem „Backward Groove“ skandiert, denkt man kurz an die B52s, dann an die Blood Red Shoes, Barbarella und an den Film Betty Blue.
Geht es noch sinnlicher? Ja, tatsächlich - um kurz nach 21 Uhr mit der dritten Band Saigon Blue Rain und der dritten Frontfrau des Abends. Die heißt Ophélie Lecomte, die als blonde Walküre mit bauchfreiem Kettenkleid wie ihre Vorgängerin die Bühne dominiert. Lecomte hat ihren musikalischen Partner Franck Pelliccioli und zwei weitere Musiker dabei. Das Quartett mischt klassischen Cold Wave mit Ethereal Dark Wave. Spätestens mit dem fünften Lied „Visions“ aus dem aktuellen Album Oko (Lecomte zufolge ein Song „about my madness“ und für eine Freundin, die an diesem Abend wegen Depressionen nicht da sein kann) haben die Pariser das Publikum überzeugt. Auch Lecomte nimmt das Publikum in ihren Bann, aber ganz anders als Sabatel. Wenn sie am Bühnenrand sitzend singt, wirkt das ebenso sinnlich wie natürlich.
Nach den drei Frontfrauen geht es in der zweiten Halbzeit des Eintagfestivals mit drei Herren weiter. Und zwar erstmal mit den Gastgebern von den Golden Apes, deren Sänger Peer Lebrecht im Auftritt der personifizierte Gegenentwurf zu den beiden extrovertierten Frauen vor ihm ist. Lebrecht raucht, trinkt Bier, steht in perfektem Minimalismus am Mikrofon, oft mit geschlossenen Augen, konzentriert dem komplex-poetischen Sound der Apes lauschend – um dann mit seiner melodisch-düsteren Stimme, die Gänsehaut macht, einzusetzen. Bewegung bringt Bruder Christian ins Spiel, der konzentriert den Bass bearbeitet. Die Berliner Postpunker um die Lebrechts gibt es inzwischen seit einem Vierteljahrhundert, seit dem letzten Dark Spring und dem Erfolgsalbum „Kasbek“ 2019 hat sich die Besetzung geändert. Die aktuelle Single „Satori“, der letzte Apes-Song des Konzerts, zeigt, dass die Düsterrocker nichts an Energie eingebüßt haben.
Energie satt gibt es auch bei den Traitrs. Dass die beiden Post-Punker aus Toronto gerade als Vorband von VNV unterwegs sind und erst am Tag zuvor als Hauptact das Lux in Hannover gerockt haben, merkt man den Kanadiern nicht an. Im Gegenteil: die beiden Freunde Sean-Patrick Nolan und Shawn Tucker geben im Lido alles, als ob das Duo dem mittelalterlichen Veitstanz zum Opfer gefallen wäre. Der düstere Dark-Wave-Sound mit seinem gefühlvollen Gesang wird durch wild tanzende und zuckende Kanadier an Mikrofon und Synthesizer zelebriert. Tatsächlich ist das 2015 gegründete Duo in Topform und überzeugt vom Anfang bis zum durchgeschwitzten Ende mit einer energiegeladenen Bühnenpräsenz in Bestform. Der Traitrs-Auftritt dürfte Dark-Spring-Veteranen an andere Überraschungsgigs aus der Vor-Corona-Zeit erinnern, wie die Whispering Sons oder A Projection, die seinerzeit das Publikum mitgerissen haben.
A Projection sind auch die Band, die die 2023-er Ausgabe des Dark Spring abschließt. Als der Autor dieser Zeilen die Schweden 2018 beim Festival in Bi Nuu sah, war er bereits Fan der Band, die ihn frappierend an Joy Division erinnerte. Düsterer Sound, mit Rikard Tengvall ein Frontmann, der sich die Verzweiflung der frühen Lieder auf dem Boden wälzend von der Seele singt. Und das ist auch 2023 nicht anders – zumindest für den Großteil des Publikums, das trotz später (oder früher) Stunde mit den Stockholmern mitgeht, -singt und -tanzt. Unser Autor hier kommt da aber irgendwie nicht mehr so gut mit, und das schon bei früheren Auftritten, wie im Februar 2023 im Lux in Hannover. Die neuen Lieder sind dem Autor zu elektronisch und zu wenig düster – und auch die alten wie Transition oder Exit, die zum Ende des Sets gespielt werden. Tengvall absolviert wieder ein enormes Tanz- , Wälz- und Singpensum. Bei vielen im Lido springt der Funken auch kurz vor 2 Uhr morgens problemlos über. Beim Schreiber dieser Zeilen aber irgendwie nicht mehr.
Dark Spring-Festival 2023 - Die Bildergalerie
Fotos von Batty Blue
Wie es in den letzten Jahren beim Dark Spring Festival war, erfahrt Ihr hier.