Von Gothamella
Kann es Schöneres geben, als nach einem nahezu perfekten Festivalabend in einen tiefen, unruhigen Fiebertraum zu gleiten? Ein Traum, der all das Erlebte - fünf herausragende Bands, eine herrliche Location, die mit Licht und Stimmung spielt, und ein Publikum bestehend aus freundlichen, wunderschönen bunt-schwarzen Musikliebhabern - verlängert und verwirbelt und verzwirbelt und so lange nachhallen lässt, bis man nicht mehr weiß, wo Erinnerungen enden und der Traum beginnt?
Nun, tatsächlich wäre das diesjährige Dark Spring Festival am 24. März 2018 im hübsch-coolen Berliner Club Bi Nuu (direkt an der U-Bahn-Station Schlesisches Tor) auch ohne anschließende Grippe toll gewesen (zumal dann dieser Text auch früher hätte geschrieben werden können), denn allein das Line-up mit Sweet Ermengarde aus Bochum, A Projection aus Schweden, den Berliner Gastgebern Golden Apes, Whispering Sons aus Belgien und schließlich Motorama aus Russland versprach einen Top-Konzertabend. Kein Wunder, dass das Dark Spring Festival Nummer neun schon Tage vorher ausverkauft war. Mit Fieber im Anschluss hatte man allerdings eindeutig länger etwas von diesem so denkwürdigen und schönen Abend. Der im Übrigen aufgebaut war wie ein klassisches griechisches Drama - zumindest fast.
Hier kommt das dunkle Frühlingsfest in fünf Akten:
Vorhang auf für Sweet Ermengarde
Klassischer Gothic-Rock ist tot? Wer das sagt, kenn Sweet Ermengarde nicht. Die Formation um den stimmgewaltigen Sänger Daniel Schweigler war ein würdiger wie passender Auftakt in diesen Konzertabend, der aus fünf sehr unterschiedlichen, von den Gastgebern Golden Apes einmal mehr handverlesenen Bands bestand. Wenn auch die schöne Stimme zu leise klang und sich deshalb nur schwer vom Gitarrenbett abhob, war nach dem knackig-kurzen Einstiegs-Gig das Publikum, das für Berliner Verhältnisse untypisch pünktlich angetreten war, gelöst, wach und gut gelaunt. Und angemessen-gruftig berührt, denn für den Gitarristen Mike York sollte es der letzte Auftritt als Bandmitglied von Sweet Ermengarde gewesen sein. Der Abschied war kurz, aber herzlich. Unterm Strich ein schöner Einstieg, der Lust auf mehr machte.
Steigerung und erster Höhepunkt mit A Projection
Warum der nicht-mehr-ganz-so-neue Sänger Rikard Tengvall von A Projection vor dem Konzertbeginn ein querliegendes Kabel liebevoll und sorgfältig mit Panzertape auf dem Bühnenboden festklebte, war schon nach den ersten Takten der energischen schwedischen Post Punk-Formation klar: Weil Rikard nicht nur singt, als ob es kein Morgen gäbe, sondern sich während der Show auch in eine Art tanzenden Bühnen-Derwisch verwandelt. Welch ein mitreißender, kraftvoller Auftritt, fantastisch. Und spätestens bei den Hits "Young Days", "Next Time" (persönlicher Favorit der Autorin) und natürlich "Exit" waren dann alle aus dem Häuschen. Toll!
Spannungsbogen halten - kein Problem für die Golden Apes
Souverän und makellos - die Gastgeber und nun schon im neunten Jahr erfolgreichen Organisatoren des Dark Spring Festivals zeigten als dritte Band des Abends, wo der Hammer hängt. Und das sogar wörtlich, denn mit Sandro Fusati an den Drums war der warme, volltönende Sound der Dark-Wave-Rock-Formation noch wärmer und voller als zum Beispiel im Herbst letzten Jahres im Lux in Hannover, als programmierte Drums den Takt angaben. Sehr schön. Und so präsentierten die Gebrüder Lebrecht (Peer: Gesang, Christian: Bass) und ihre versierten Mitstreiter einmal mehr ein famoses, herrlich melancholisches Konzert bester alter Schule. Ganz wunderbar.
Höhepunkt des Dramas mit den Whispering Sons: So hypnotisch, so mitreißend
Die traurig-treibende Kraft dieser belgischen Ausnahme-Formation erkennt man auch auf Platte. Aber live? Unfassbar gut! Das liegt zum großen Teil an der beeindruckenden Sängerin Fenne Kuppens, die mit ihrer tiefen, volltönenden Stimme mit jeder Zeile ein dickes, schweres Paket voller Emotionen an das Publikum weitergibt. Sie ist verzweifelt? Wir auch! Todtraurig? Und wie! Wütend und fassungslos? Erst recht!
Und dazu tanzt sie, wie man eigentlich nur zu Hause tanzt, dann, wenn keiner zusieht und man sich mal so richtig gehen lässt. Nachts. Wenn die Vorhänge zu sind und die Musik so laut, dass es eigentlich nur mit Kopfhörer einigermaßen nachbarschaftsverträglich wäre.
Der Jubel im Publikum sprach Bände, und er kam auch von ganz hinten des mittlerweile vollen Clubs. Von dort aus ließ sich übrigens auch schön beobachten, dass in dieser Band tatsächlich alle in Bewegung sind. Gab es je einen elastischeren Gig?
Am Ende war man schlichtweg geplättet, ja hypnotisiert von dieser Frau, von dieser Stimme, von dieser treibenden Musik, von der Atmosphäre. Und leise fragt man sich, was ihr bloß widerfahren sein könnte, dass sie so traurig und so wütend und zugleich so toll ist. Und ein bisschen hofft man sogar, dass diese Krise nie, nie aufhören möge, weil sie doch zu so herrlichen Post-Punk-Wave-Songs führt. Ist das gemein? Nein, denn die Therapie gibt es dann live auf der Bühne. Nur echt mit der Setlist auf dem beidseitig beschriebenen Pappteller.
Danach wirkten alle irgendwie erschöpft, ein bisschen ausgelaugt, aber glücklich. Happy Weltschmerz. Und ganz großes Kino.
Katharsis oder Katastrophe? Motorama machen es spannend
Ach, da war alles so aufgeladen und so erwartungsvoll, und dann dauerte die Umbaupause sooo lange, dass der Spannungsbogen nicht zu halten war. Zwar nutzte der wohl größte Motorama-Fan der Welt, der extra aus Brüssel angereist war, die Zeit, um den Gruftboten ausführlich von seiner Lieblingsband vorzuschwärmen ("die Wiedergeburt von Joy Division"), doch als es dann losging mit den berühmten und fleißig tourenden Russen, war irgendwie die Luft raus. Schade, dabei fielen uns beim Zuhören so einige tolle Bands ein, an die wir uns musikalisch erinnert fühlten, etwa Pink Turns Blue, die Foals, sogar ein Hauch Shout Out Louds war dabei. Doch der Funke sprang einfach nicht über. Was aber am Ende auch gar nicht schlimm war, denn der Abend war unterm Strich eh schon großartig, bevor Motorama den ersten Ton anschlugen.
Bestes Lied:
Wall von Whispering Sons (sagen Batty Blue und Gothamella)
Exit von A Projection (sagt Dunkelklaus)
Ach, und Next Time von A Projection (sagt Gothamella, die Unentschlossene)
Beste Performance: Eindeutig Fenne Kuppens, Frontfrau und überhaupt einzige Frau an diesem Abend auf der Bühne.
Bestes Bühnenoutfit: Lars Kappeler, Bassist und Gründer von Sweet Ermengarde.
Bewegendster Moment: Die Dankesrede von Christian Lebrecht, Festival-Organisator und Bassist bei den Golden Apes.
Nicht so schön: Die Stimmen waren wunderbar, aber alle zu leise.
Schönstes Mini-Recherche-Gespräch (Gothamella & Christian Lebrecht):
Chris: "Nein, wir wechseln nicht die Location, wir bleiben im Bi Nuu, es ist alles so wunderbar hier, das Team, die Location selbst, einfach alles perfekt."
Gothamella: "Aber wenn doch noch viel mehr Leute gern aufs Dark Spring Festival gehen würden..?
Da lacht Christian und sagt: "Das freut uns natürlich sehr. Dann müssen sie sich eben ganz, ganz schnell eine Karte kaufen."
Fazit: Wir sind begeistert! Und freuen uns aufs nächste Jahr, wenn das Dark Spring Festival, dieses besondere, feine Festival, in seine zehnte Runde geht!
Dark Spring-Festival 2018 - Die Bildergalerie
Fotos von Dunkelklaus